Manuskripte 2023

Kirchentag in Nürnberg

In dieser Datenbank haben Sie die Möglichkeit, Redebeiträge vom Kirchentag in Nürnberg 2023 einzusehen.

Diese Sammlung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit; wir veröffentlichen alles, was uns die Referierenden zur Verfügung stellen. Die Dokumentationsrechte für ganze Texte liegen bei den Urheber:innen. Bitte beachten Sie die jeweiligen Sperrfristen.

 

Sperrfrist
Fr, 09. Juni 2023, 09.30 Uhr

Fr
09.30–10.30
Bibelarbeiten am Freitag | Bibelarbeit
Bibelarbeit | Heino Falcke
Was jetzt am Tage ist | 1 Mose 50,15-21
Prof. Dr. Heino Falcke, Radioastronom, Nijmegen/Niederlande

Zwischen Macht und Ohnmacht – Christliches Engagement in einer zerrissenen Welt

Exegese

Josef der Roman

Josef-Geschichte: Einer der bekanntesten der Bibel, auch im Koran. Texttyp eigentlich ein Roman ein Novelle. Verschiedene Theorien wie sie entstanden ist: aus zwei Urerzählungen oder einer, die vielleicht mehr oder weniger ergänzt wurde. Der Ursprung der Erzählung wird datiert irgendwo zwischen dem 10. und 3. Jahrhundert.

Historischer Kern

Was ist der historische Kern? Es ist nicht unwahrscheinlich, dass es wirklich einen hohen israelitischen Beamten in Ägyptern gegeben hat. Israeliten waren in Ägypten: König Jerobeam I. suchte z.B. im 10. Jhd vor Christus Zuflucht in Ägypten und auch im 8. Jhd gab es intensive Beziehungen zwischen israelischen Stämmen und Ägypten1. Warum dann nicht auch ein kleiner, aber schlauer „Josef“? Auch Hungernöte und ein ausgeklügeltes System von Kornspeichern in Ägypten sind belegt.

Pragmatische Haltung

Ich habe eine sehr pragmatische Haltung gegenüber Bibeltexten. Ich nehme die Bibel nicht fundamentalistisch wörtlich aber ich nehme sie sehr ernst. Ich bin bewusst blauäugig und vertraue auf den heiligen Geist. Ich gehe davon aus, dass es einen guten Grund gibt, dass diese Texte da so stehen wie sie stehen. Gott schenkt uns diese Texte durch Menschen, damit wir weiser werden.

Es wird einen Josef gegeben haben

Ich gehe auch davon aus, das dieser Text einen historischen Kern hat, eine echte Lebenserfahrung – ich vermute es wird einen Josef gegeben haben. Bei einem so großen Reich wie Ägypten, bei der sich Herrscher an Herrscher reihen, wird er weltgeschichtlich sicherlich nur eine Fußnote gewesen sein. Auf seine eigenen Stammesbrüder wird er aber einen großen Eindruck gemacht haben. Für uns ist es eine Figur, von der wir lernen können und die uns hilft unseren Glauben zu schärfen.

Redigiert und erweitert

Es stört mich dabei nicht, dass die Geschichte mit der Zeit von verschiedenen Menschen redigiert und erweitert wurde. Das scheint mir unvermeidlich. Es bedeutet, dass in dieser Geschichte vielfältige Glaubenserfahrungen und Weisheiten ihren Niederschlag gefunden haben. Gottes Geist wirkt oft durch die Gemeinschaft und im besonderen Maße bei der Entstehung der Bibel. Ein Buch, dass sich aus der Weisheit der vielen Gotteserfahrungen speist ist für mich auch viel glaubwürdiger.

Geschichte für Jedermann - Eintauchen

Insofern geht die Josefgeschichte weit über eine persönliche Story oder die Geschichte von ein paar Stämmen aus grauer Vorzeit hinaus. Sie ist eine Geschichte für alle Zeiten und für jedermann! Sie ist ein Geschichte in die wir mit Haut und Haaren eintauchen können, um uns selber und Gottes Weisheit besser zu verstehen.

Vorgeschichte

Video „Josefgeschichte mit Playmobil“ - Michael Sommer

35 Die Brüder Josefs aber fürchteten sich, als ihr Vater gestorben war, und sprachen: Josef könnte uns gram sein und uns alle Bosheit vergelten, die wir an ihm getan haben. 16 Darum ließen sie ihm sagen: Dein Vater befahl vor seinem Tode und sprach: 17 So sollt ihr zu Josef sagen: Vergib doch deinen Brüdern die Missetat und ihre Sünde, dass sie so übel an dir getan haben. Nun vergib doch diese Missetat uns, den Dienern des Gottes deines Vaters! Aber Josef weinte, als sie solches zu ihm sagten. 18 Und seine Brüder gingen hin und fielen vor ihm nieder und sprachen: Siehe, wir sind deine Knechte. 19 Josef aber sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Stehe ich denn an Gottes statt? 20 Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen, um zu tun, was jetzt am Tage ist, nämlich am Leben zu erhalten ein großes Volk. 21 So fürchtet euch nun nicht; ich will euch und eure Kinder versorgen. Und er tröstete sie und redete freundlich mit ihnen...

2 Ebenen, 2 Perspektiven: Politisch & Persönlich, Josef & Brüder

Dazu vielleicht ein paar kurze Bemerkungen: Wir können diese Geschichte auf zwei Ebenen lesen. Das eine ist die persönliche Geschichte einer Familie, das andere die politische Geschichte von Stämmen einer Gesellschaft. Wir können diese Geschichte auch aus zwei Perspektiven betrachten: Josef & Brüder

Viel passiert in der Familie

Es ist viel passiert in dieser Familie und in dieser Geschichte. Der übermächtige, patriarchalische nicht immer mitfühlende Vater, die miteinander konkurrierenden Brüder, der vom Schicksal herausgehobene, herausgerufene und herausgeforderte Josef, der in einer imperialistischen, autokratischen Gesellschaft zu Macht und Würden aufsteigt. Alle diese Menschen sind miteinander verwoben, erleben Hungersnöte, Heimatverlust, und tiefe Verwerfungen.

Sklaverei

Dass eine Familie, dass Brüder einen von ihnen in die Sklaverei verkaufen, ist wirklich heftig. Das klingt nach einem Märchen aus einer lange vergangenen Zeit, aber solche Erfahrungen sind heute immer noch Lebenswirklichkeit von Millionen von Menschen und vor allem von Kindern: sie werden verkauft, verstoßen, ausgenutzt. 50 Millionen Menschen sollen heute, laut der International Labour Organisation (ILO)2, noch in sklavenähnlichen Verhältnissen leben. Was macht das mit einem Kind, einem jungen Mann, wenn er erleben muss, dass seine eigene Familie ihn so behandelt: Wenn der Neid alles Maß übersteigt, wenn deine eigenen Brüder dich so verstoßen?

Wir als Finanziers der Sklavenhändler

Jeder der für 3 Euro mal eben ein T-Shirt kauft, um es morgen wieder wegzuwerfen weiß eigentlich, dass er Teil dieser Maschinerie ist. Wir sind vielleicht keine Sklavenhändler, aber wir bezahlen doch die Karawane, die Josef mitnimmt.

Brüder: Patchwork & Ministerpräsidenten

Die Brüder sind Teil einer großen Patchworkfamilie mit ihren Konflikten und Eifersüchteleien die auf persönlicher Ebene spielen. Sie stehen aber auch stellvertretend für Stammesführer in ihrem Klan. Wir könnten sie quasi als die 12 Ministerpräsidenten der Israeliten verstehen. Dabei sind sie meistens mächtiger als Josef. Wir haben da den reichen Ministerpräsidenten aus Bayern neben dem Ministerpräsidenten aus dem Saarland oder dem schönen, aber immer noch kleinen Stadtstaat Hamburg. Trotzdem wird im wahren Leben nicht der Bayer oder der Nordrheinwestfale Bundeskanzler, sondern der Hamburger. So ist das Leben nun mal und das sorgt manchmal für Spannungen.

Josef: asu der Gosse zum Star

Josef ist zum einen das klassische Bild des Stars, der es aus der Gosse nach ganz oben schafft. Erst ein verwöhnter aber talentierter Nachzügling und Lieblingssohn, der erst ganz tief fallen muss, bevor zu einer weisen Führungsfigur wird, dem wir hier begegnen. Trotz aller rauen Kanten und Schicksalschäge, bleibt Gott immer seine Leit- und Rettungschnur.

Josef: Israel & Jesus

Josef steht aber auch für alle, die abgeschrieben und verstoßen sind. Er steht auch für das kleine Land Israel, das sich gegen alle Schrecken und gegen alles eigenes Versagen immer wieder behauptet. Und Josef ist für Christen auch ein Motiv für Jesus, der noch tiefer gefallen ist, noch ohnmächtiger war und am Ende über Tod, Gewalt und Macht triumphiert hat.

Motiv Klimawandel

In dem Text begegnen wir auch Hungersnot und Dürre. Motive, die angesichts von Klimawandel und Dürren in Europa hoch aktuell sind. Die Söhne Israels werden durch Hungersnot und Klimakrise, zu Wirtschaftsflüchtlingen.

Motiv unheilige Macht

Das letzte Motiv in dieser Geschichte ist das des mächtigen Ägyptens. Brüder wie Josef sind darauf angewiesen mit und in diesem Land zu arbeiten. Es ist ein feindliches, imperialistisches Großreich, mit einem autokratischen Herrscher und Vielgötterei. Das ist nicht ihre Gesellschaft, das ist nicht ihr Glaube. Und doch sind sie gezwungen sich mit und in dieser Gesellschaft zu arrangieren.

Fragen an das Publikum

Zusammensetzen in Gruppen von vier

Fragen:

• Was fällt euch beim Text auf?

• Was ist euer Kernsatz?

• Wo seht ihr euch in der Geschichte und warum? (Brüder, Josef, persönlich, politisch?)

Auslegung

Zwischen Ohnmacht und Macht?

Wir leben zwar in einer Demokratie, aber viele fühlen sich entfremdet. Wir teilen auch nicht mehr mehrheitlich miteinander den gleichen Glauben. Umgeben sind wir von einer Welt, die zwischen Blöcken aufgerieben wird, wo Macht- und Geld ihre kalten unbarmherzigen Spiele spielen. Krieg und Hungersnöte sind fast Alltag geworden, Dürren gibt es inzwischen auch in Europa und wir fangen an Toilettenpapier und Speiseöl zu hamstern. Mal sehen, was noch alles kommt.

Was sagen unsere Kinder?

Ich frage mich, wie unsere Kinder auf uns schauen werden, wenn sie nicht nur 7 magere Jahre mitgemacht haben werden und erleben, wie eine ganze Welt in ein Klimachaos geschlittert ist und Hunger- und Klimaflüchtlinge um ihre Vorräte bitten.

Immer weniger ausrichten können

Gleichzeitig, haben wir das Gefühl immer weniger ausrichten zu können. Die einen ziehen sich zurück in ihr privates Glück. Äußerlichkeiten und ein gemütliches Leben zählen mehr als politisches Engagement. Die anderen begehren auf, kleben sich fest, oder erklären dem System den Kampf – ob von links oder von rechts das spielt dabei keine Rolle.

Unsere Aufgabe als Christen?

Diese Zerrissenheit in unserer Gesellschaft spielt sich auch in unserer heutigen Gesellschaft und in unseren Familien ab. Lohnt es sich überhaupt noch, sich für diese Welt einzusetzen? Kinder zu kriegen? Was ist unsere Aufgaben als Christen in einer zunehmend säkularisierten Gesellschaft? Spielen wir überhaupt noch eine Rolle in einer Welt, in der ganz andere Wertmaßstäbe gelten? Sind wir wirklich ohnmächtig? Oder haben wir doch Macht und wenn ja, wie gehen wir damit um? Vielleicht kann Josef uns da ein wenig helfen.

Ägypten = DDR

Beim Nachdenken über Josef musste ich an die Christen in der DDR denken, die damals vor ähnlichen Herausforderungen und Fragen standen.

Heino Falcke - besucht

Pfingstmontag vor knapp zwei Woche(n) sind wir auf unserem Pilgerpfad durch Ostdeutschland in Erfurt angekommen. Dort haben wir Heino Falcke besucht und mit ihm geredet. Keine Sorge, ich habe keine Selbstgespräche geführt, sondern wir haben meinen Namensvetter und sehr entfernten Verwandten besucht. Der streitbare Theologe war von 1973 bis 1994 Probst in Erfurt. 5

Probst sein ist schön

Probst, so sagte er, sei der schönste Job der Welt. Er hätte sich nur um Theologie und Seelsorge kümmern müssen. Allerdings in Zeiten von DDR-Sozialismus hatte auch Theologie gesellschaftliche Sprengkraft.

Augustinerkloster

In Erfurt steht das Augustinerkloster in dem Martin Luther nach seinem Gewittererlebnis als Novize ins Kloster eintrat und seine kirchliche Kariere begann. Dieses ehemalige Kloster – damals zur Ausbildungsstätte für Prediger mutiert - war lange Zeit Heino Falcke’s Wirkungsstätte.

Vortrag: Christus befreit

Am 30. Juni 1972 hatte Heino Falcke seinen eigenen Thesenanschlag. In seinem programmatischen und vielbeachteten Vortrag „Christus befreit - darum Kirche für andere” vor der Synode des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR (BEK) in Dresden fasste er sein Verständnis von einer Kirche im DDR-Sozialismus zusammen. Dabei geht es nicht um eine akademische Diskussion darum, wie toll oder nicht toll der Sozialismus ist, sondern darum wie Christen in einem Unrechtsstaat leben sollen.

Himmelreich strahlt aus – Christus

Ausganspunkt der Gedanken von Heino Falcke war Jesus Christus. Er war und ist immer noch überzeugt, dass die Befreiung durch Christus sich nicht auf das Himmelreich beschränkt, sondern hier und jetzt schon sichtbar werden soll. Jetzt ist die Zeit! Das Himmelreich ist dadurch nichts rein Jenseitiges, genauso wenig wie es etwas rein Diesseitiges ist. Dadurch ist Christsein nie reine Politik, aber auch nie unpolitisch. Seine Empfehlung an seine Mit-Christen in der DDR: bleibt hier, reißt nicht aus, setzt euch ein in und für diesen Staat.

„Weil Christus sie befreit, darum kann Kirche für andere da sein. Die Befreiung, die von Christus ausgeht, kommt aber nicht in der Kirche zum Ziel. Sie zielt auf die kommende Gottesherrschaft als das Reich der Freiheit für alle Menschen. Darum soll Kirche für andere da sein und den befreienden Dienst Christi für alle Menschen bezeugen.“

Verbesserlicher Sozialismus

Er sprach dabei schelmisch von einem „verbesserlichen Sozialismus“. Das brachte ihm Kritik von allen Seiten ein: Von denen, die die DDR lieber heute als Morgen verschwinden sehen wollten und natürlich von der herrschenden Clique, denn nach offizieller Lesart konnte man den Sozialismus nicht verbessern – er war per definitionem ja schon perfekt.

Typischer Deutscher Weg

Dennoch war dieser Vortrag eine Grundsatzrede, der der konstruktiv kritischen Haltung der Kirchen in der DDR ein theologisches Fundament gab. Keine Fundamentalopposition, aber auch keine Vereinnahmung: Ein moralisch ambivalenter Weg, vielleicht ein sehr typisch deutscher Weg. Revolutionen brauchen lange in unserem Land, aber sie passieren irgendwann. 6

Lorenzkirche 1978

Als wir durch Erfurt streiften kamen wir an der katholischen Lorenzkirche vorbei uns lasen zufällig eine Gedenktafel zum ökumenischen Friedensgebet: hier hätte 1978 das erste Friedensgebet stattgefunden. Beim Mittagessen erzählte der heute 94jährige Probst, dass damals zwei Frauen, eine Protestantin und eine Katholikin, dieses Friedensgebet angefangen hätten – zu der Zeit, als in der DDR der Wehrunterricht in der Schule etabliert wurde. In der Zeit der friedlichen Revolution in der DDR gab es dann überall in der DDR Friedensgebete und auch in Erfurt spielte diese Gruppe eine wichtige Rolle. Die Kirche bot einen geschützten Raum, wo der Wunsch nach Frieden und Veränderung vor Gott und den Menschen formuliert werden konnte. Seit 1978 findet dieses Gebet ununterbrochen bis heute jeden Donnerstag in Erfurt statt!

Stasistürmung

Als die Stasi in Erfurt begann ihre Akten zu verbrennen wurde ihr Gebäude in Erfurt gestürmt. Voran liefe wieder eine Frau, nämlich die Ehefrau von Heino Falcke. Er selber stellte sich mit seinem Dienst-Trabbi vor das Tor der Stasi, um eine Abfuhr der Akten zu verhindern.

Ich bin zwar kein großer Freund von Klebe- und Blockadeaktionen, aber vielleicht sollten wir doch öfters mal unsere Trabbis vor das Tor der Mächtigen dieser Welt stellen, ob sie Putin, Trump oder sonst wie heißen.

Trabbi ist nicht unüberwindlich

Allerdings ist ein Trabbi kein unüberwindliches Hindernis. Insofern war Probst Falcke sehr froh, als die Jungs von der Stadtreinigung mit ihrem Lastwagen kamen und meinten: „Fahr mal zur Seite, wir können das besser!“. Nicht immer reichen in solchen Auseinandersetzungen theologische Argumente oder kleine Trabbis – manchmal braucht es halt die Kraft der Bauarbeiter und ihrer großen Maschinen. Macht ist manchmal durchaus nützlich – und wenn es nur ein LKW ist.

Hoffnungslos unterlege aber nie hoffnungslos

Die Christen waren damals hoffnungslos unterlegen und doch nie hoffnungslos. Aus dem kleinen Protest der wenigen, der Unterdrückten, ist eine große Veränderung entstanden, die nicht alles gut, aber vieles besser gemacht hat.

Am Ende waren die Kleinen die Mächtigen. Viele Christen aus der DDR haben es später zur Macht und Einfluss gebracht und unsere Republik mitgeprägt:

• Joachim Gauck (Theologe & Präsident)

• Angela Merkel (Pfarrerstochter & Bundeskanzlerin)

• Wolfgang Thierse (Bundestagspräsident, bekennender Christ)

• Manfred Stolpe (Kirchenjurist, Verbindungsmann zur Stasi, Ministerpräsident & Minister)

Manfred Stolpe

Manfred Stolpe, war in der DDR Vermittler zwischen Kirche und Stasi. Er hatte in beiden Systemen Einfluss. Hinterher war er deshalb eine beliebte Zielscheibe westdeutscher Medien, wie der Spiegel oder dem Bayerischen Rundfunk.

Da stellt sich die Frage, wie geht man da um, mit seiner Macht? Wie weit darf man gehen? Wie weit darf man seine eigenen moralischen Grundsätze verbiegen?

Weggefährten von Stolpe – das habe ich auch im persönlichen Gespräch erfahren - ließen nichts auf ihn kommen. Sie schätzten seinen Einsatz, obwohl oder vielleicht weil er sich nicht zu schade war, sich die Finger schmutzig zu machen. Im Westen wollte man ihm dafür an den Kragen.

Wie mit Macht umgehen?

Da stellt sich auf einmal die Frage, wie wir mit Macht umgehen. Die ganze Zeit waren die Christen machtlos und jetzt auf einmal prägen sie eine Gesellschaft.

Auch heute denken wir immer, wir wären machtlos, aber jeder von uns hat mehr Macht als er denkt, in Familie, Beruf, Vereine, Politik, oder Industrie. Manche von uns sind Führungskräfte. Und Macht macht etwas mit uns:

Macht verletzt, Macht korrumpiert. Wer macht hat, hat kein weiße Weste. Wir alle nicht. Ich glaube, es gibt keine Möglichkeit Macht zu haben und auszuüben und nicht schuldig zu werden!

Karfreitag nach der großen Pressekonferenz

Als ich 2019 das erste Bild eines schwarzen Lochs in einer großen Pressekonferenz vorstellen durfte, hatte ich eine unfasslich intensive Zeit hinter mir. Das war das Ergebnis eines großen Team von großen und einflussreichen Institutionen in der Wissenschaft. Wir hatten eine intensive Zeit hinter uns. Innerhalb des Team hat es, bei aller Motivation und Engagement, auch viele Verletzungen gegeben und nicht immer hat die Gerechtigkeit am Ende gesiegt. Ein paar Tage nach der Pressekonferenz saß ich in einem Karfreitagsgottesdienst des CVJM in Köttingen in der letzten Reihe und habe einfach nur geheult. Es kam alles hoch: all die Angriffe, all die Verletzungen, auch die Momente wo ich Menschen nicht schützen konnte, wo ich selber versagt hatte. Ich habe bei den Mächtigen mitgespielt und gespürt, was das bedeutet.

Macht macht auch

Aber Macht macht auch! Macht kann gestalten. Veränderungen passieren eben auch von oben! Wer Macht ablehnt macht sich ebenfalls schuldig. Er macht sich das Leben zu leicht.

An Josef können wir sehen, dass Macht in der Bibel nichts grundsätzlich schlimmes ist. Die Frage ist: wie gehen wir damit um?

Wie reagiert der Mächtige?

Josef ist ein gutes Beispiel. Josef hatte Macht, sogar militärische. Er schickte Streitwagen, die Brüder fallen auf Knie, sie flehen um Gnade, und erwähnen das letzte Band, dass sie vielleicht noch verbindet: ihren Vater. Die Brüder hatten Angst um Leben und Tod. Mächtige Männer sind unberechenbar und gefährlich.

Elon Musk

Als der Multi-Milliardär Elon Musk die Social-Media Plattform Twitter übernommen und den Großteil der Belegschaft als inkompetent gefeuert hatte ging es mit seiner Firma bergab. Als er sich bei einem noch verbliebenden Ingenieur beschwerte, er hätte 100 Millionen Follower, aber nur 10.000 würden seine Tweets lesen, schaute dieser in die internen Daten und erklärte ihm, dass halt seine Popularität um den Faktor 10 gesunken sein. Das sagt man keinem Egozentriker. „Du bist gefeuert, du bist gefeuert!“, schrie Musk den Ingenieur laut Insiderberichten an. Daraufhin wurde der Algorithmus geändert und Tweets von Elon Musk erschienen fortan auch bei den Nutzern die sie absolut nicht sehen wollten. Ich bin seitdem weitestgehend weg da.

Josef ist ein Gegenbeispiel

Josef ist das Gegenbeispiel einer selbstverliebten Führungskraft. Es gibt einiges das wir von Josef lernen können: als Leitungsverantwortliche, aber auch als Väter und Mütter, als Brüder und Schwester und als Menschen, die in dieser Gesellschaft leben.

Weißheit und Maß

Er ist ein Beispiel für einen Führungsstil mit Weisheit und Maß: Josef steht auf einem festen Wertefundament, Gottes Gebote sind sein Leitdraht. Er ist trotzdem nicht dogmatisch und passt sich vorrausschauend der Lage an. Das ist wahre Weisheit.

Moralische Keule abrüsten

Die Weisheit scheint mir eine der am meisten vernachlässigten Eigenschaften in unserem öffentlichen Diskurs. Als Wissenschaftler bin ich gewohnt, dass wir oft sehr intensiv diskutieren und um den richtigen Weg ringen muss. Aber am Ende entscheiden die Argumente. Wir brauchen Weisheit.

Ich habe daher ein großes Problem damit, wie wir heute im gesellschaftlichen Bereich unsere öffentlichen Diskussionen führen. Es scheint mir ein marktschreierischer Überbietungswettstreit persönlicher Befindlichkeiten voller absoluter moralische Entrüstung auf allen Seiten geworden zu sein. Das lässt oft wenig Raum für einen echten Austausch der Argumente und weise Entscheidungen.

Die reale Welt ist aber nie schwarz-weiß. Jeder hat irgendwie etwas recht. Wir sollten daher versuchen die moralische Keule abzurüsten. Mit der reinen Lehre kommen wir oft nicht weiter. Die gibt es nämlich nicht. Die Bibel ist keine moralische Keule, sondern ein Buch, dass sehr viel Lebensweisheit enthält und von uns Weisheit fordert. Es gibt aber leider auch bei uns Christen immer noch zu viel Populismus.

Ukraine

Zwei Beispiele: Es ist wahrscheinlich auf diesem Kirchentag ziemlich unstrittig, dass wir Klimakornspeicher bauen müssen und uns auf magere Jahre ohne fossile Brennstoffe einreichten müssen. Das was heute alle als Gängelung beklagen, ist kein Vergleich zu den Einschränkungen, die uns die Natur und die Physik auferlegen werden, wenn wir nichts tun. Dafür bekomme ich (wahrscheinlich) hier wohlwollende Zustimmung.

Aber, hätte ein hochrangiger Bundeswehroffizier 2014 nach der Annexion der Krim hier auf dem Kirchentag gesagt, wir müssen die Ukraine dringend aufrüsten und Sicherheitsgarantien aussprechen, hätte ich als ehemaliger Wehrdienstverweigerer, empört aufgeschriehen, was das denn für ein fürchterlicher Militarist ist. Viele hier wahrscheinlich mit mir – und dann hätten wir uns, ob unserer moralischen Überlegenheit gut gefühlt.

Aber vielleicht wären Waffenlieferungen damals Weise und vorausschauend gewesen und hätte Hundertausenden Menschen das Leben gerettet – von den riesigen Umweltschäden ganz zu schweigen.

Es ist nicht so einfach, weise zu entscheiden!

Ein paar weiter Dinge sind mir im Bibeltext aufgefallen, die wir vielleicht von Josef lernen können:

Kommunikation

1.) Die ganze Szene trieft ja eigentlich voller konfliktträchtiger Befindlichkeit auf allen Seiten! Aber es gab ehrliche, offene Kommunikation. Josef uns seine Brüder reden miteinander. Sie schütten ihr Herz aus. Erzählen von ihren Beweggründen und Ängsten. Von Josef wird gesagt:

„Er tröstete sie und redete freundlich mit ihnen“.

In der kleinen und der großen Politik wird zu sehr übereinander geredet und nicht miteinander.

Bei Josef steht auch nicht sein eigenes Ego oben an, er ist bereit Schwäche zu zeigen und zu vergeben.

„Josef weinte, als sie solches zu ihm sagten“

Keine billige Gnade

Dabei ist es keine billige Gnade, die Josef schenkt. Er hatte die Brüder zuvor auf Herz und Nieren geprüft und festgestellt, dass die Brüder ernsthaft um Vergebung bitten. Er will keine Ja-Sager, die ihm nur schmeicheln. Er will ernsthafte Umkehr.

Das bedeutet aber auch, dass man manchmal trotz aller Kommunikation, eine harte Entscheidung treffen muss, nämlich dann, wenn der andere nicht zuhört, nicht einsichtig ist. Individuelle Befindlichkeit kann nicht immer das durchschlagene Argument sein, wenn man Verantwortung für eine ganze Gruppe hat. Josef ist hier um dieses Dilemma noch drumherum gekommen, aber das ist nicht immer so.

Gott steht über ihm

2.) Josef hat eine andere Perspektive der Macht. Er weiß, sehr genau, dass seine Macht nur geborgt ist. Er hat sie sich nicht verdient, sondern er 10 hat sie verliehen bekommen. Von Gott: nicht weil er selber göttlich ist, sondern, um Gott zu dienen.

„Stehe ich denn an Gottes statt?“,

fragt er rhetorisch. Nein, das tut er nicht. Er weiß genau, dass Gott über ihm steht. Das ist wahre Weisheit. Weisheit ist zu wissen, wo du stehst! Und auch die Brüder stellen sich Josef als „Diener des Gottes deines Vaters!“ vor – damit ist schonmal eine gemeinsame Basis geschaffen. Nicht wir sind die Götter. Gott thront immer über uns. Ihm sind wir Rechenschaft schuldig. Keiner ist absolut im Recht und keiner absolut moralisch überlegen.

Aus Gottes Perspektive irrelevant

Wir haben vielleicht verschiedene Rollen zu spielen in dieser Gesellschaft, aber egal wie mächtig wir sind: Aus Gottes allmächtiger Perspektive sind menschliche Rangunterschiede völlig irrelevant. Wir haben vielleicht unterschiedliche Gaben und Aufgaben bekommen, aber vor Gott sind wir tatsächlich gleich wertvoll. Und so sollen wir uns auch untereinander behandeln!

In Gottes Firma sind von der Reinigungskraft bis zum CEO alle Mitarbeiter wichtig.

Gott kann

„3.) Gott kann“ – „Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen“ sagt Josef. Gott kann auch böse Pläne durchkreuzen. Er kann dafür sorgen, dass aus dem Bösen irgendwann auch wieder Gutes entsteht. Gott kann die Welt umdrehen. Aus Verrat kann wieder Brüderlichkeit werden. Aus Krieg kann Frieden werden, aus Schwertern Pflugscharen. Aus einem Sklaven kann ein Herrscher werden, aus einem verkorksten Leben kann ein erfülltes Leben werden.

Wir unterschätzen Gottes Macht

Das ist der große Fehler, den wir Christen immer wieder machen: wir unterschätzen Gottes Macht. Im Jammern sind wir gut:

• Die Kirche ist sowieso überflüssig in dieser Gesellschaft. Also fahren wir die halt geordnet runter, bis irgendjemand das Licht ausmacht. Wo ist da die missionarische Hoffnung?

• Die Klimakrise kommt sowieso und wir können sie nicht aufhalten, weil die Menschen doch zu dumm sind. Wo ist da die Hoffnung des Regenbogens?

• Ich selber bin doch viel zu klein, und kann nichts tun. Wo ist da die Hoffnung auf den weltbewegenden Gott?

Hoffnung durch Engagement austrahlen

Was für eine Hoffnungslosigkeit strahlen wir da aus? Weil wir glauben, dass Gott Böses in Gutes verwandeln kann, deshalb ist es eine heilige Aufgabe von Christen sich immer wieder einzubringen und diese Hoffnung durch ihr Engagement in dieser und jeder Gesellschaft auszustrahlen!

Wir brauchen mehr Josefs in dieser Welt

Wir brauchen mehr Josefs in dieser Welt! Ja, Macht und Einfluss sind gefährlich, aber wenn Kirche und Christen keine Verantwortung in Staat, Verwaltung, Wissenschaft, und Industrie übernehmen, dann tun es eben 11 andere. Ist die Welt dann besser? Ohnmacht ist nicht heiliger als Macht. Das Entscheidenden ist, ob wir die Weisheit haben, mit der Macht gut umzugehen. Und da kann jeder Einzelne hier in seinem Bereich ein Vorbild sein – egal wie groß deine Macht ist.

Unser Bestes geben

Ich glaube zutiefst, das unsere Aufgabe als Christen darin besteht – wo immer wir sind – unser Bestes zu geben, auch wenn wir dabei Fehler machen. Ob und was daraus wird liegt am Ende in Gottes Hand.

Zusage gilt auch persönlich

Gott kann: Diese Zusage gilt uns als Welt, aber auch dir persönlich. Wenn dein Leben vor die Wand gefahren ist. Wenn du Böses erfahren hast. Gott kann auch bei dir aus Bösem Gutes erwachsen lassen.

Christus befreit

Das Zeichen der Christen ist das Kreuz. Ein Folter und Mordwerkzeug. Dieses Kreuz ist heute leer, weil Christus auferstanden ist und es zu einem Zeichen unserer Hoffnung geworden ist. Christus befreit! Hat Probst Falcke damals gesagt. Er hatte Recht. Wir Christen sollten uns durch Christus zum Handeln befreien lassen und zum Befreier für andere werden!

Dafür gebe Gott uns seinen Frieden und seine Weisheit. Amen!

1 https://www.bibelwissenschaft.de/wibilex/das-bibellexikon/lexikon/sachwort/anzeigen/details/josef-josefsgeschichte/ch/76a43f072c43c79f094d96180b0cf209/#h10

2 https://www.un.org/en/delegate/50-million-people-modern-slavery-un-report


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